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500 Jahre Freundschaft zwischen Juden und Muslimen in Sarajevo. Ein Mythos?

Vielleicht haben Sie schon davon gehört. In der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina soll eine kleine jüdische Minderheit mit einer großen muslimischen Mehrheit harmonisch zusammen leben. Fast schon mythisch liest sich die Freundschaft der beiden Glaubensgemeinschaften. Ist das heute überhaupt möglich? In  einer Stadt, in der vor 25 Jahren ein grausamer ethnischer Krieg herrschte? Ein Ausflug in die jüdische Geschichte von Sarajevo, die gleichzeitig die Geschichte einer langen jüdisch-muslimischen Freundschaft ist.

Die Alte Sefardische Synagoge liegt mitten in der Altstadt von Sarajevo. Hier geht das Gründerzeitviertel mit seinen k.u.k.-Fassaden in den lebhaften osmanischen Basar über. Man schaut direkt auf die Ferhadija-Moschee mit ihrem weißen Minarett. Nur einige Schritte entfernt stehen der sonnengelbe Dom der Orthodoxen und die katholische Kathedrale in Crèmeweiß.

“Sehen Sie sich das an! Vier verschiedene Gotteshäuser in einem Viertel – einmalig in Europa!” Kaum eine Taxifahrt durch die Innenstadt von Sarajevo, ohne dass der Fahrer irgendwann aufgeregt das Fenster herunterkurbelt und auf Kirchtürme und Minarette zeigt. “Muslime, Serben, Kroaten, Juden! Das ist Sarajevo.” Kurz danach kommt meistens: “Wie ein kleines Jerusalem!”

Das multikulturelle Sarajevo. Für mehr als ein halbes Jahrtausend war Sarajevo tatsächlich dieser legendäre Ort der Toleranz. So lange lebten die Glaubensgemeinschaften aller vier Buchreligionen eng zusammen in diesem kleinen Tal. Und die Mischung aus Sprachen, Religionen und Kulturen brachte ein System hervor, das für Sarajevo typisch wurde. Da hat der Taxifahrer recht. Doch seit der Bürgerkrieg in den Neunziger Jahren einen Großteil dieses multikulturellen Systems zerstörte, ist es vorbei mit dem guten Ruf der Stadt. Wenige Kroaten sind geblieben, die meisten Serben leben in der Satellitenstadt Ost-Sarajevo. Nur noch ein kleines Grüppchen kommt sonntags in der orthodoxen Kirche zusammen. Auch viele Juden machten sich davon. Die große Mehrheit ist muslimisch. Die Vielfalt ist zwar Wunsch, aber fast Geschichte.

Heute entdeckt man Flyer, auf denen ein jüdischer, ein muslimischer, ein orthodoxer und ein katholischer Musiker ein Quartett darstellen. Solche Statements würden die meisten Menschen in Sarajevo unterschreiben. Denn sie wollten ja nie getrennt leben. Damals, in den schlimmen Wochen im April 1992, haben sich die Sarajevoer verzweifelt dagegen gewehrt, auseinander gerissen zu werden. Hunderttausend kamen auf der Vrbanja-Brücke zusammen. Muslimische, kroatische und serbische Bosnier hofften, dass das bunte Sarajevo den ethnisch-nationalistischen Ideen widerstehen könnte. Doch einige fanatische Politiker begannen, den Menschen das zu nehmen, worüber sie sich immer definiert hatten. Es wurde schwerer, den aufgeschlossenen Geist weiterzuleben.

Die Beziehung zwischen den Juden und den Muslimen in Sarajevo stellt da eine große Ausnahme dar. Hier hat die viel zitierte bosnische komšiluk, die gelebte Nachbarschaftsliebe, nie aufgehört zu existieren.

Mario Kabiljo schließt das Tor zur Alten Sefardischen Synagoge auf. Sie ist nur noch an den Feiertagen aktiv und beherbergt seit 1966 auch das Jüdische Museum. Der zurückhaltende sonnengebräunte Mann im blauen Hemd und Turnschuhen ist Museumsführer – und Spezialist für die jüdische Kultur in Sarajevo. Schon im Innenhof ist vom Rummel der Altstadtgassen nichts mehr zu spüren. Eine private Lehrstunde sei ihm eine Freude, verspricht der 66-Jährige.

Wir gehen 500 Jahre zurück: Sefardische Juden flüchteten ab 1492 ins türkisch regierte Bosnien. Die Inquisation in Spanien und Portugal hatte sie nach Osten getrieben. Sie brachten eine interessante Kultur mit, spezielles Wissen und beherrschten Handwerke, die es in Bosnien nicht gab. Der amtierende Sultan ludt sie ein, sich niederzulassen. Er erlaubte ihnen, ihre inneren Angelegenheiten selber zu regeln und nach jüdischen Religionsgesetzen handeln. Dazu versprach er ihnen rechtliche Sicherheit und wirtschaftliche Perspektiven. “Die Juden waren willkommen in Sarajevo”, lächelt Kabiljo.

Die Sefarden führten auch das Ladino ein, das sogenannte Judenspanisch, das sie auch im Alltag sprachen. Heute nur noch ein linguistische Spezialität. “Ich beherrsche es zwar, aber warum sollte ich es sprechen?” Kabiljo, dessen Vorfahren auch aus Spanien kamen, zuckt mit den Schultern. Er ist nicht nostalgisch. „Es ist wichtig, unsere Geschichte zu konservieren. Aber ich wünsche mir die alten Zeiten nicht zurück. Es ist gut so, wie es ist. Ich bin ein Bürger von Sarajevo. Dreiviertel meiner Freunde sind Muslime. Ich muss mir keine jüdischen Nischen suchen.”

Natürlich mussten sich die Juden der osmanischen Herrschaft unterwerfen wie alle anderen auch. Für sie, wie auch für die Christen, galten Regeln, die zum Teil diskriminierend waren. So durfte ein Muslim eine Jüdin oder eine Christin heiraten, aber kein Jude oder Christ eine muslimische Frau. Der Historiker Holm Sundhaussen spricht in seinem umfassenden Werk über die Geschichte Sarajevos von der Duldung und dem Schutz der Juden. Dies könne man sich wie eine Vorstufe des Minderheitenschutzes vorstellen. Damit war das osmanische Reich den Juden gegenüber weitaus wohlwollender eingestellt als die meisten christlichen Staaten.

Im Inneren der Alten Synagoge beeindruckt vor allem das natürliche Licht und der schnörkellose Dekor. Ein feiner Ausstellungsort, dessen Prunkstück gleichzeitig auch einer der größten Schätze der Stadt ist: die über 660 Jahre alte Sarajevo-Haggadah. Das aufwändig ornamentierte Handbuch zur Pessach-Geschichte entstand in Zaragossa und ging mit auf die Reise nach Bosnien.

Kabiljo deutet auf ein Miniaturmodell des einstigen jüdischen Viertels. “Ein wohlhabender Türke gab den Juden damals Geld, um diese Synagoge zu bauen.” Obwohl gemäß der Scharia  jüdische und christliche Neubauten illegal waren, erwirkte Pascha Sijavuš bei einem Besuch in Sarajevo eine Sondergenehmigung. Auch als die Synagoge nach einem Brand einmal repariert werden musste, wurde bei der Frage um Erlaubnis getrickst. Der Kadi von Sarajevo log einfach, die Synagoge hätte schon vor der osmanischen Herrschaft dort gestanden.

 “Die Juden lebten in Sarajevo mitten in der Stadt, nicht in Ghettos. Nach und nach entstanden jüdische Geschäfte und Institutionen, die auch von den Einheimischen besucht wurden”, erklärt der Museumsführer. Auch im osmanischen Basar, der heutigen baščaršija, betrieben die Juden ihre Läden. Bald ähnelten sich Lebensstil und Gewohnheiten, die Sefarden passten sich schnell an. Die inoffizielle Hymne von Sarajevo, “Kad ja podjoh na Bentbašu” (Wenn ich zur Bentbaša geh’) ist Teamwork: Der Stil ist traditionelle bosnische Sevdalinka – die Melodie stammt von den Sefarden. Religion, Bildungswege oder Wohnen dagegen betrieben die Gruppen getrennt. Integration nein, Toleranz ja.

1878 besetzte die österreichisch-ungarische Militärmacht Bosnien. Mit ihr ließen sich auch Jiddisch sprechende aschkenasische Juden nieder. Bis 1941 ging es der jüdischen Bevölkerung gut in Bosnien. 15 Synagogen für etwa 14.000 Juden im Land, davon 12.500 in Sarajevo bei einer Bevölkerung von 80.000.

Als der Zweite Weltkrieg in die Hauptstadt stampfte, wäre das beinahe das Ende von 500 Jahren jüdischer Geschichte gewesen. Nur etwa 1.100 Juden überlebten in Bosnien die Schoa. Die große Mehrheit wurde von kroatischen Ustascha-Milizen und deutschen Soldaten erschossen oder in Konzentrationslagern ermordet. Zwischen 1948 und 1951 wanderten weitere Hunderte nach Israel aus. Während der Belagerung von Sarajevo im Bosnien-Krieg, 1992 bis 1995, gab es wieder einen Emigrationsschub nach Israel und in die USA.

Heute leben noch etwa 740 Juden in Sarajevo bei einer Gesamtbevölkerung von 300.000. Muslime machen etwa 75% der Einwohner aus. In einem Land mit hoher Arbeitslosigkeit und stark geschwächter Wirtschaft. Seit dem Krieg sind vereinzelt Wahhabiten und Salafiten aufgetaucht. Grund zur Sorge?

Kabiljo schüttelt den Kopf. „Diese radikalen Islamisten sehe ich nur selten. Und falls sie frustriert sind, dann jedenfalls nicht gegen uns, sondern vielleicht eher gegen unsere Muslime, die ihnen zu lau sind. Aber diese so genannten Missionare haben es hier schwer, es gibt strenge Regeln in den Moscheen, da kann nicht einfach einer kommen und unsere Muslime radikalisieren. Sie sehen es ja selbst, die Stimmung in Sarajevo ist gut.”

Auch zwischen den Serben, Bosniern und Kroaten sei es friedlich, erklärt der Museumsführer. Doch da sei Sarajevo ein Ausnahmefall. „In den so genannten ‘gesäuberten Orten’ rund um die Hauptstadt leben entweder nur Serben oder nur Muslime. Dort ist die Stimmung gedrückt. Aber da wohnen keine Juden.” Mario Kabiljo seufzt. “Wir in Sarajevo würden gern wieder mit allen zusammenleben wie vor dem Krieg”.

Diesem Krieg folgte eine Regelung, die nicht nur für die Juden, sondern auch für das ganze Land ein Dilemma bedeutet. Laut Nachkriegsverfassung von Dayton, auf der der Staat Bosnien-Herzegowina beruht, dürfen Minderheiten wie Juden oder Roma nicht bei Präsidentschaftswahlen kandidieren oder in die Volkskammer entsandt werden. Dagegen klagte 2009 der ehemalige Vorsitzende des Judenrates von Sarajevo, Jacob Finci, am Europäischen Gerichtshof. Und siegte. Doch getan hat sich nichts, weil keine der Großmächte, die an Dayton mitgeschraubt haben, den Vertrag auflösen will. Die Krux: Bosnien-Herzegowina verstößt mit diesen fremd auferlegten Bestimmungen gegen die europäische Menschenrechtskonvention. Und solange das so ist, gibt es für Bosnien keine EU. Kürzlich kündigte Außenminister Steinmeier an, Deutschland wolle sich beim Europäischen Gerichtshof dafür einsetzen, diese Klausel vorübergehend auf Eis zu legen. Es gilt zu hoffen.

Wie sagen die muslimischen Sarajevoer über das Verhältnis zu ihren jüdischen Nachbarn? Die Antworten reichen zunächst von “Hab’ ich noch nie drüber nachgedacht” bis “ganz selbstverständlich”. Dann fällt dem einen oder anderen eine Anekdote ein. Amel Salihbasić ist Stammgast im kleinen Teehaus Čajdžinica Džirlo. Ein angenehmer Ort mit Holzbänken und türkischen Teppichen. Hier treffen sich freundliche Einheimische und Reisende, um sich auszutauschen und auf die Altstadt hinabzuschauen. Amel wurde 1969 in Sarajevo geboren, studierte hier und lebt momentan in Wien. Jüngst veröffentlichte er einen üppig bebilderten Reiseführer über Bosnien. Der ist auch hier bei Džirlo beliebte Lektüre beim Tee.

“Nach dem Zweiten Weltkrieg”, erklärt Amel, “hatten die Juden gute Positionen, weil sie besonders gebildet und flexibel waren. Die meisten waren auch in der Kommunistischen Partei.” Amel erzählt, dass ein Jude namens Emerik Blum 1951 in Sarajevo den Konzern Energoinvest gründete. Die Firma wurde die größte in Ex-Jugoslawien. “Der hat aus einer Werkstatt einen Riesenkonzern gemacht”, sagt Amel. 1981 wurde derselbe Blum Bürgermeister von Sarajevo. “Mein Schwiegervater hatte lange einen jüdischen Vorgesetzten bei einem Buchverlag. Das Verhältnis war sehr gut, sie wurden auch Hausfreunde. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde seine Frau von muslimischen Nachbarn versteckt”, erinnert sich Amel. “Obwohl in Bosnien viele Kriegsverbrechen begangen wurden, war das Verhältnis der normalen Leute untereinander nie schlecht.”

Darüber können einige Spezialisten sicherlich noch mehr berichten. Auf zur Jüdischen Gemeinde auf der anderen Seite des Flusses. Der Spaziergang führt an der Miljacka entlang. Man passiert viele schöne und auch heruntergekommene Wohnhäuser. In manchen liegen Kunstgalerien versteckt, nur Insider wissen, wo genau. Dann die Hauptpost, wie ein Grandhotel. Alle paar Minuten grüßt die niedliche Straßenbahn mit lautem Rattern. Ein Bus mit Werbung für das Solinger Tageblatt fährt vorbei. Auf der Čumurija-Brücke kreuzt man den Fluss und erreicht das Herz der jüdischen Gemeinde von Sarajevo: die Synagoge der Aschkenasim.

Das crèmefarbene Gebäude wurde 1902 im neu-maurischen Stil errichtet. Vorn blickt es auf den Berg Trebević, hinten auf den Fluss. Eingeklemmt zwischen einem Fußballplatz und “papagajka” – einem gelb-grünen Haus-Ungetüm aus der sozialistischen Zeit, den man als interessantes Zeitzeugnis oder als Unverschämtheit für die Augen bewerten kann. Die repräsentative Synagoge wirkt ein bisschen groß für die kleine Gemeinde. Doch es ist was los.

Im Foyer steht der Zigarettenqualm, am Fenster sitzen Leute nebeneinander auf Stühlen. In der Cafeteria, die wie ein Lehrerzimmer aus den Siebzigern aussieht, unterhalten sich Männer bei Bier und Kaffee. Auch einige junge Damen laufen über die Flure. Zuletzt freute sich die Gemeinde über einige Dutzend junge Leute aus Israel und den USA, die zum Studieren gekommen sind. Aber ob die Studenten nachher bleiben?

Ana Maglajlić ist 24 Jahre alt und Politische Assistentin im EU-Büro für Bosnien und Herzegowina. Die junge Frau mit den langen schwarzen Haaren studierte in Wien und hat viel von der Welt gesehen. Sie ist optimistisch. “Ich finde, Sarajevo hat Studenten aller Religionen viel zu bieten. Sowohl kulturell als auch akademisch. Wir teilen ein hohes Maß an gegenseitigem Respekt, was unsere religiösen und kulturellen Hintergründe angeht. Hier können Menschen den Judaismus praktizieren, wie sie wollen.” Diese Freiheit habe aber für manche vielleicht auch Nachteile. Denn in Sarajevo gibt es weder Geschäfte noch Restaurants, die auf koschere Lebensmittel spezialisiert sind. Auch speziell jüdische Institutionen fehlen. Einzige Ausnahme ist die Sonntagsschule für Kinder. “Zweimal im Jahr kommt ein Rabbi aus Israel, zu den Feiertagen. Es gibt schlichtweg kein Geld, um jüdische Mitarbeiter in Israel ausbilden zu lassen. Aber dass es zum Beispiel keine getrennten Schulen gibt, finde ich gut”, sagt sie. “In anderen Städten gibt es das schließlich auch nicht. In einem Land wie Bosnien wäre das auch eher kontraproduktiv. Es ist schon traurig genug, dass in manchen Orten in der Herzegowina kroatische und bosniakische Kinder zu unterschiedlichen Zeiten in ihre Klassen gehen.”

Im Konferenzraum unter einer Reihe bosnischer Rabbis auf Leinwand lädt eine der umtriebigsten Gestalten von Sarajevo zum Gespräch. Eli Tauber ist ein kleiner Mann mit lustigen, aufmerksamen Augen hinter dicken Brillengläsern. Der 64-Jährige ist Spezialist für jüdisch-mulsimische Beziehungen und zappelt auf seinem Stuhl herum. Als Doktor für Geschichte an der Universität von Sarajevo hat er sich auf den Holocaust in Bosnien und Internationales Recht spezialisiert. Nebenbei organisiert er beliebte kostenlose Picknicks in der Altstadt. Dort stellt er die Neue Sefardische Küche vor, wie zum Beispiel das beliebte Gericht In Haminadus, bei dem Eier in Zwiebeln gegart werden. 

Tauber kündigt an, dass er für die Vergangenheit zuständig sei. Für die Gegenwart würde gleich der Chef persönlich dazustoßen. “Die besondere Beziehung zwischen Muslimen und Juden hat eine lange Tradition”, erklärt er. Ihr Ursprung sei wahrscheinlich in Spanien zu finden. Denn dort lebten die Juden mit den Arabern zusammen und waren folglich damit vertraut, wie sich andere Religionen verhalten. Tauber setzt seine Brille ab und beugt sich vor. “Die Juden und Muslime hielten von Anfang an gegen den amtierenden Pascha zusammen, fast wie ein verschwörerischer Pakt. Muslime mögen keine Paschas”, grinst er. “Und so halfen die Muslime den Juden, wenn der Pascha sich ihnen etwa ungerecht gegenüber verhielt.”

Im Laufe der Zeit vertiefte sich die Freundschaft. Es wurde durcheinander geheiratet. “Als die Nazis in Sarajevo einfielen, war es sehr, sehr mutig, einem Juden zu helfen”, bekräftigt Tauber. “Denn es war hochgefährlich”. Trotzdem setzten sich viele Muslime für die Juden ein. Sie halfen mit Kleidung, gefälschten Dokumenten und bei der Flucht – zahlreiche Muslime wurden dafür in Konzentrationslager gebracht. “Eine große Anzahl an Juden verließ Sarajevo unter muslimischen Namen. Solche Aktionen muss man auf ewig würdigen”, findet Tauber.

Aus diesem Grund sammelte er für sein Buch “When neighbors were human beings” („Als Nachbarn Menschen waren“) zahlreiche Biografien von bosnischen Personen, die Juden vor den Nazis gerettet haben. Darin listet er 47 Personen auf, an die im Yad Vashem mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern” erinnert wird, und er präsentiert viele Geschichten von außergewöhnlicher Nächstenliebe. „Ich habe schon wieder 50 neue Fälle aufgetan“, freut sich der Archivar spitzbübisch. Auch die berühmte Haggadah würde es wahrscheinlich nicht mehr geben, hätten muslimische Helfer sie nicht in Sicherheit gebracht.

1992 kesselte die serbische Armee Sarajevo ein. “Die Kriegsparteien boten den Juden sofort an, die Stadt zu verlassen. Alle Seiten waren sich einig und sagten, ‘Lasst unsere Juden aus dem Spiel!”, lächelt Tauber. Etwa die Hälfte beschloss zu gehen. Die anderen blieben. Es war wieder an der Zeit für die berühmte komšiluk: gelebte Nachbarschaft jenseits ethnischer Grenzen. Diesmal andersherum. Was in den folgenden Jahren geschah, ist längst in die Gecshichtsbücher eingegangen. “Während der Belagerung litten wir jüdisch-bosnischen Bürger genauso wie alle anderen Bosnier“, erinnert sich der gebürtige Sarajevoer. Die jüdische Gemeinde hatte Zugriff auf Nahrungsmittel, Medikamente und Kleidung. Ihr altes Hilfswerk „La Benevolencija“ trat in Aktion. Täglich 300 Mahlzeiten und kostenlose medizinische Behandlung für alle ethnischen Gruppen. “Wir haben 2300 Menschen aus der Stadt gebracht. Natürlich haben wir auch Serben und Kroaten unterstützt”.

Nachdem er selbst 1992 über Belgrad nach Israel gelangt war, schickte Tauber sogleich seinen Pass zurück nach Sarajevo. „Hier sorgten die Kollegen dafür, dass ein Moslem unter meinem Namen die Stadt verlassen konnte.” Tauber nickt zufrieden. “Darauf bin ich wirklich stolz.” Etwa 2000 Juden taten ihm gleich. „Es war das erste Mal in der Geschichte, dass ein Mensch offiziell als Jude floh“, fasst er zusammen. “Es war ein Vorteil, jüdisch zu sein!”, wiederholt Eli Tauber , fast so, als ob es nicht wahr sein könnte.

Der Chef gesellt sich dazu. Seit kurzem steht Boris Kožemjakin der Jüdischen Gemeinde vor. Er ist ein schwerer Mann um die 60. Bart, Brille, kurze Ärmel. Typ Anpacker.

„Mein Schwiegersohn ist Muslim. Das ist ganz normal.” Kožemjakin spricht schnell und kommt noch schneller auf den Punkt. „Wir arbeiten direkt mit islamischen Institutionen zusammen. Wir stehen täglich in Kontakt. Und seit dem Krieg fungieren wir auch als Vermittler zwischen den Serben und den Muslimen“. Muslime kümmerten sich wiederum um die Instandhaltung der jüdischen Grabstätten, berichtet der Gemeindechef. Erfreulich. Der Jüdische Friedhof ist nach Prag die zweitgrößte jüdische Grabstätte in Europa und einer der interessantesten Orte in Sarajevo. Er wurde 1630 auf den Hügeln des Stadtteils Kovačiči erbaut und bietet ein grandioses Panorama auf Stadt und Berge. Steile vierhundert Meter zieht sich das Gräberfeld hinauf. Die sefardischen Grabsteine liegen schräg und wie im Fallen erstarrt im Gras, mit lateinischen und spanischen Inschriften versehen. 

Kožemjakin will die jüdischen Anwesen zurück in den Besitz der Gemeinde holen, die sich der Staat in der kommunistischen Zeit aneignete. “Es gibt in Bosnien keine Gesetze für solche Fälle, deshalb bilden wir mit den muslimischen Kollegen seit 2005 eine Lobby. Aber die Regierung lässt sich hier bei allem viel Zeit”, brummt Kožemjakin. Auch der Große Sefardische Tempel in der Altstadt soll irgendwann einmal wieder der Gemeinde gehören. Die Juden hatten der Stadt ihre größte Synagoge geschenkt, mit der Bitte, sie für einen kulturellen Zweck zu benutzen. Heute beherbergt sie das “Bosni kulturni centar” und ist hinter lauter verschachtelter Anbauten kaum noch zu erkennen.

Auf die Frage nach Aggressionen gegen die jüdische Gemeinde schüttelt   Kožemjakin  den Kopf. “Nema problema.” Keine Probleme. “Bis 2011 gab es gar nichts. Wenn der Gaza-Streifen bombardiert wird, bekommen wir allerdings Israelfeindlichkeiten zu spüren. Ein paar kleinere Demonstrationen.” Der Gemeindevorsteher winkt ab. „Das waren Äußerungen ohne Plan dahinter. Beunruhigt uns nicht. Mich ärgert nur, wie dumm diese Demonstranten sind: Wir sind zwar Juden, aber doch keine Israeli, sondern Bürger dieser Stadt.”

Die Sonne senkt sich hinter den Bergen. Boris Kožemjakin hat jetzt Feierabend. Die Synagogentür lässt er hinter sich offen stehen. “Wir brauchen keinen Polizeischutz. Wir glauben, dass eine offene Tür die beste Strategie ist. So ist es doch auch viel einladender.” Dann schließt er sich dem Menschenstrom an, der in Richtung Altstadt pilgert.

Kristina Koch

Zum Weiterlesen:

Holm Sundhaussen: Sarajevo. Die Geschichte einer Stadt.

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