I. Der Militärarzt Anton

Aus Czernivtsi/Ukraine, 26. September 2022
Anton ist Militärarzt beim ukrainischen Grenzschutz. Da er sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen will, unterhalten wir uns im Spendenlager unserer Hilfsorganisation Cologne Cares zwischen den Kartons. Der 40Jährige macht einen ruhigen Eindruck. Freundliche Augen, die natürlich von zu wenig Schlaf erzählen. Zunächst dankt er uns für unsere Hilfe und das Engagement aller, die uns zuhause dabei unterstützen.
Anton, womit sind Sie in diesen Monaten hauptsächlich beschäftigt?
Anton: Ich kümmere mich um die Soldaten, die aus der Ost-Ukraine hierher nach Czernowitz kommen, um sich zu erholen.
Was brauchen sie vor allem?
Anton: Vor allem psychologische Hilfe. Die meisten leiden unter Posttraumatischen Belastungsstörungen, ich würde sagen 80%. Diese Leute waren an der Front und kommen zurück mit Sprachstörungen, sie stottern oder sprechen gar nicht mehr. Andere haben Schlaf- und Angststörungen. Im Moment habe ich 600 Patienten mit PTBS. Die psychiatrischen Krankenhäuser der Stadt helfen uns. Verletzte Soldaten haben wir natürlich auch.
Was passiert mit den kranken Soldaten?
Anton: Wenn sie leichte Traumata oder Verletzungen haben, gehen sie zurück an die Front. Diejenigen mit schweren Traumata oder Schusswunden, bei denen Spätfolgen abzusehen sind, bleiben hier und werden weiterbehandelt.
Spielt bei den psychischen Belastungen das Alter eine Rolle?
Anton: Besonders leiden die 18- bis 40Jährigen.
Was tun Sie außerdem?
Anton: Ich organisiere Erste-Hilfe-Kurse und unterrichte auch selbst. Außerdem bin ich für die Vorbereitung und Organisation von Medikamenten zuständig, die hier in den Krankenhäusern und an der Front gebraucht werden.
Wie wird Ihre Arbeit finanziert?
Anton: Es gibt ein Budget von der Regierung und die NGOs und Volontäre helfen sehr viel.
Wie gehen Sie mit dem Leid um, dass Sie mitbekommen?
Anton: Meine Familie hilft mir. Und die Tatsache, dass ich etwas für die Freiheit unseres Landes tue.
Anton kommt aus Zhytomyr im Norden, lebte dann in Lviv, studierte in Kiew Allgemeinmedizin und war dann an der slowakischen Grenze eingesetzt. Seit zehn Jahren lebt er in Czernowitz mit seiner Frau und zwei Kindern.
Anton: Ich habe Verwandte in Russland. Sie reden nicht mehr mit uns. Wir sind alle hier schockiert, wie sehr sie von der Propaganda beeinflusst sind. Anfangs beruhigten sie uns: „Es wird nichts passieren, sie zerstören nur militärische Einrichtungen und Flughäfen“. Danach brachen sie den Kontakt zu uns ab.
Kennen Sie hier russische Menschen, die jetzt ukrainischen Menschen helfen?
Anton schaut uns irritiert an.
Es muss welche geben.
Er überlegt.
Anton: Ich kenne keine.
Wir berichten ihm von den russischen Menschen in Deutschland, die den ukrainischen Flüchtlingen helfen. Keine Reaktion. Das erleben wir nicht zum ersten Mal. Nette Russen können sich die Betroffenen im Moment nicht vorstellen. Vielleicht ist eine kollektive russische Grausamkeit im Moment die einzige Möglichkeit für viele, sich einen Reim auf diesen barbarischen Angriff zu machen. Und auf die, die der Propaganda glauben. Stattdessen erwähnt der Arzt die Zurückhaltung der deutschen Regierung.
Anton: Warum ist sie so zögerlich? Unser Kampf ist auch ein Kampf für Europa.
Wir versuchen die deutsche Haltung zu erläutern. Sasha nickt höflich. Als wir fragen, was er uns noch sagen möchte, braucht er ein paar Sekunden und antwortet dann sichtbar bewegt.
Anton: Was gerade passiert, ist eine große Tragödie für die Ost-Ukraine. Ich habe auch in Mariupol gelebt. Das ist eine wunderbare Stadt. Vor den Angriffen war Mariupol eine moderne Metropole mit der besten Infrastruktur, sehr gutem Service und tollen, modern denkenden Menschen. Zu sehen, dass das alles zerstört ist, tut mir sehr weh.
Haben Sie Kontakt zu Menschen in Mariupol?
Anton: Aus meinem Freundeskreis sind viele tot und andere in russischer Gefangenschaft. Und all das wird noch länger andauern. Denn wir müssen für eine Freiheit kämpfen, die Bestand hat. Doch wir haben einen starken Feind.
Kristina Koch
Interview: Kristina Koch und Mowafaq Abdulmuati
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