An der Grenze Slowakei-Ukraine im März. Etwa hundert Kilometer vor der Grenze zur Ukraine kommen uns die ersten vollen Busse und PKW mit ukrainischen Passagieren entgegen. Dazwischen Militärautos. Am Grenzübergang Vyšné Nemecké warten viele, die Verwandte, Freunde oder Fremde abholen wollen. Das kann dauern. Denis aus Donezk berichtet, dass er mit seiner Familie in seinem Auto zweieinhalb Tage auf der anderen Seite der Grenze wartete, bis er beschloss zu parken, den Autoschlüssel wegzuwerfen und zu Fuß weiterzugehen. Wahrscheinlich die leichteste der tausend Entscheidungen, die er treffen musste. Dann weitere 15 Stunden Wartezeit bei Minusgraden. Am slowakischen Grenzübergang finden die Menschen einen Platz mit Zelt zum Ausruhen, Stände mit Kaffee und Suppe, Kleidung und Kindersitzen, Sim-Karten, medizinische Notversorgung. Mission Lifeline und die Malteser sind da. Und zahlreiche Soldaten und Grenzpolizisten.
Trotzdem herrscht eine Stille, die sich aus Schock und Traurigkeit speist.
Autos überqueren die Grenze sowie Fußgänger mit Rucksäcken und Rollkoffern. Ein altes Ehepaar stolpert weinend einem Helfer hinterher, ihre Taschentücher fallen auf den Boden. Der Helfer drückt sie in einen Bus, wo sie fassungslos aus dem Fenster starren. Eine Frau hockt auf der Straße, ihr kleiner Sohn drückt eine Katze an sich. Wir basteln eine Box für das Tier und legen Katzenfutter dazu. Mein Begleiter, 2015 aus dem Irak nach Deutschland gekommen, weiß, wie es den Menschen geht, die gerade aus dem Krieg kommen. Er erwähnt die übermüdeten, schockgeweiteten Augen. Ein Mann aus Polen hält ein Schild hoch, auf dem er Fahrten nach Warschau anbietet. 8000 Kilometer sei er seit Kriegsbeginn gefahren, immer hin und her. Von uns bekommt er eine Kiste Lebensmittel und Hygieneartikel für seine Passagiere.
Denis’ Familie wurde mit 40 anderen in einer Schule untergebracht, 30 km entfernt von dieser Grenze. Dort ruhen sie sich nun aus. Wir halten Kontakt mit der Familie und wollen sie in ein paar Tagen nach Berlin bringen. Dort kennen sie niemanden. Denis ist IT-Entwickler und hofft auf einen Job. Unsere Freundin in Berlin schraubt derweil an einer Unterkunft für die fünf.
Unseren Transporter mi den in Deutschland gesammelten Spenden fahren wir in ein grenznahes Wohngebiet. Dort haben zwei freiwillige Helferinnen aus Deutschland und Estland eine Art Lager errichtet. Auf dem Grundstück einer Anwohnerin, die im Bademantel zwischen den Kisten steht und nicht zu kapieren scheint, was da in ihrem Haus passiert. Ihr Rasen ist plattgefahren von den Transportern, die seit Tagen in ihren Garten rollen. Wir laden unsere Sachen in einen LKW. Die Fahrer sind Freiwillige aus der Slowakei, die die Güter täglich zu einem ukrainischen Krankenhaus bringen. Dort wird alles gebraucht. Bald ist auch nichts mehr zu essen da. Im Städtchen Michalovce kaufen wir ein, um den Wagen wieder zu füllen. Die einschlägigen deutschen Supermärkte reihen sich aneinander. Bei DM lautet die Rechnung am Ende 1400,05 Euro, wir haben alle Einkaufswagen in Gebrauch. Wir haben nur Scheine und bitten um den Erlass der fünf Cent. Nein, das geht nicht. Wir fügen hinzu, dass der Einkauf für die Ukraine ist. Keine Chance. Seit Corona läuft es in Michalovce auch mies, nicht bei jedem ist Platz für Empathie.
Über telegram-Gruppen kommen die Notrufe, Bedarfe und Infos, und über Leute, die man zufällig trifft. Wer kann eine Frau mit Baby an der Grenze abholen. Wir haben drei freie Plätze nach Leipzig. Infos über neue Zollbestimmungen. Über die Lage an den Grenzübergängen. Ständig upgedatete Listen mit benötigten Sachen. Transport nach München und Katowice gesucht! Dann wird organisiert. Alle in dieser Blase reagieren schnell und zielgerichtet. Genau wie die tollen Leute zuhause, die uns unterstützen. Über jede Überweisung freuen wir uns genauso wie über jedes Angebot, ukrainische Menschen aufzunehmen.
Ein Helfer aus Kroatien braucht Hilfe beim Einrichten eines neuen Notlagers. Wir kaufen 15 aufblasbare Betten, dazu Kissen, Pumpen und Schlafsäcke und handeln einen Rabatt aus. Seine anderen Wünsche, Helme und schusssichere Westen, können wir leider nicht erfüllen, gibt es hier nicht.
Anfrage: Eine Familie aus Kiev sitzt im Zug hierher, mit dabei ein vor fünf Tagen geborenes Baby. Sie brauchen einen Transport und eine Unterkunft in Köln. Da ein Radiosender von unserer Tour berichtet, nutze ich das nächste Gespräch, um dafür aufzurufen. Sofort kommen Angebote für Unterkünfte rein, von Freunden und von den Radiohörern. Wahnsinnig nette Mails von Menschen, die entweder zusammenrücken wollen oder ganze Häuser anbieten. Zwei Tage später zieht die Familie mit dem Baby bei einer Familie in Düren ein, dort wird sogar Ukrainisch gesprochen. Ihren Hund mussten sie in Kiev lassen, kein Platz mehr im Zug. Im Chaos am Bahnhof drückten sie jemandem die Hundeleine in die Hand. Sie erinnern sich nicht mal an die Person, so schnell musste es gehen. Wunder: Eine Woche später wird er über eine facebook-Gruppe gefunden und von einem Verwandten gesichert.
Die Idee, die uns aus Deutschland erreicht, man soll nicht einfach so herkommen, weil bereits genug Helfer da seien, erscheint uns an diesem Ort nicht angemessen. Allerdings sollte man sich vorher vernetzen und wissen, wo man gebraucht wird.
Gegenüber der Schule, wo Denis haust, parkt ein älterer 40-Tonner von DHL. Die slowakischen und ukrainischen Fahrer stehen in der Kälte herum und warten auf Lieferungen. Von Leuten wie uns. Es ist schon zehn Uhr abends, diese Leute sind rund um die Uhr hier. Sobald ein Transport eintrifft, kommen die ukrainischen geflüchteten Leute rüber, bilden eine Kette und laden ein. Denis, seine Frau und Kinder machen auch mit. Wir laden unsere Fracht in den LKW. In einer telegram-Gruppe bietet eine Frau eine Fahrt nach Berlin für den nächsten Morgen an. So wären Denis und Familie eher dort. Sie sind einverstanden und wir verabschieden uns. Am folgenden Abend informiert uns Denis, sie seien gut angekommen. Später schickt die Fahrerin Bilder vom gemeinsamen Zoobesuch, sie wird sich weiter um die ukrainische Familie kümmern. Gutes Teamwork. Schon zwei Familien untergebracht. Und noch sechs freie Plätze im Auto.
Mein irakischer Freund zeigt keinerlei Missgunst, dass den ukrainischen Menschen mehr Türen geöffnet werden als ihm damals.
Am nächsten Tag wieder zum Ladeplatz an der Schule. Auf der Suche nach Übersetzung lernen wir Kateryna kennen. Sie ist gestern aus Kiev geflohen, mit zwei Kindern, ihr Mann musste dort bleiben. Bei ihr ist Ana mit ihrer kleinen Tochter und Oksana plus Katze. Sie haben noch nicht realisiert, was passiert ist. Als wir anbieten, sie nach Deutschland mitzunehmen, zucken sie hilflos mit den Schultern. Sie könne noch nicht denken, erklärt Kateryna. Und sich noch nicht vorstellen, die geografische Nähe zu ihrem Land, ihrem Mann und ihrer Mutter aufzugeben. Die Betreuer bringen Kuchen und wir sprechen mit allen Bewohnern. Manche wollen zu Freunden in Italien, zu Verwandten nach Polen. Ihre Videos aus den bombardierten Städten sind um ein Vielfaches schrecklicher als alles, was man in den Nachrichten sieht. Die Wirklichkeit ist Blut, abgetrennte Körperteile. Ein Mann erzählt immer wieder, wie sein Nachbar und er Wasser holen wollten, als eine Bombe vor ihnen einschlug und den Kopf des Freundes abriss. Immer wieder. Mein Begleiter hört ihm ewig zu, dann umarmen sie sich. Kateryna speichert unsere Nummern.
Wir klappern die Apotheken und Supermärkte ab und machen den Wagen wieder voll. Insgesamt können wir in diesen Tagen für über 6500 Euro Medikamente, Lebensmittel und anderes kaufen, das unsere Kontaktpersonen brauchen. Wir beladen den Truck, organisieren, treffen neu angekommene Menschen, übernehmen Erledigungen. Ich verfolge zeitgleich die Einsätze der ehrenamtlichen Hilfsorganisationen zuhause: Es geht um die Evakuierung von Kranken, Hochschwangeren oder Rollstuhlfahrern, um Generatoren für Kinder, die Atemgeräte brauchen, die Bereitstellung von Riesenmengen an Hilfsgütern – und viele andere große Nöte, die gute Koordination erfordern. Alle sind maximal bereit und pausenlos aktiv.
I think we have no choice, sagt Kateryna leise am Telefon. Am nächsten Morgen besorgen wir eine Katzentransportbox und Proviant für die Reise nach Köln. Wir verlassen das Grenzgebiet mit drei Frauen, einem 15jährigen Mädchen, zwei fünfjährigen Kindern und ein wenig Gepäck. Lange, stille Fahrt durch die slowakische Tristesse und die verschneite Tatra, Übernachtung bei Prag.
Ein paar Tage später. Unsere neuen Freunde sind gut untergebracht, ihre Gastgeber sind tolle Menschen, die sich auch um alles Weitere kümmern wollen. Papierkram, Sprachschulen, Kindergarten. Kateryna und Ana warten jeden Tag auf Lebenszeichen von ihren Männern in Kiev. Oksana lernt Deutsch im Alleingang. Ein Kollege ist derweil mit drei weiteren Transportern in Vyšné Nemecké. Und wir planen die nächste Fahrt.
(alle Fotos K.Koch)
Über Geldspenden für die nächste Fahrt freuen wir uns.
paypal: kk@kristina-koch.com.
Mit Spendenquittung: Förderverein Willkommen in Nippes e.V.
Volksbank Köln Bonn eG
IBAN: DE97 3806 0186 4921 0590 14, BIC: GENODED1BRS, Verwendungszweck: Transport Ukraine KK