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Die vergessenen Menschen von Bihać

Foto: Dean Dean

September 2019 an der bosnisch-kroatischen Grenze. Wir sind in der bosnischen Stadt Bihać. 18 Kilometer von Kroatien entfernt. Hier gibt es vier Lager für geflüchtete Menschen. Ungefähr 9000 Leute sind da untergebracht. In Bihać selbst leben 60.000 Menschen. Schöner Ort an einem Fluss und See, Rafting und gutes Essen. Hier habe ich schon Urlaub gemacht. Drei der vier Lager sind die übliche Misere. Das vierte ist eine Katastrophe. Darum geht es mir.

Foto: Kristina Koch

Damit es in der Stadt ruhig bleibt, hat die Polizei im Juni begonnen, Menschen auf eine ehemalige Mülldeponie zu transportieren. An einen Ort, der Vucjak heißt, der aber kein Ort ist, sondern nur eine Müllhalde. Man fährt aus der Stadt heraus, zehn Kilometer in Serpentinen hoch auf einen Berg, dann enge Schotterstraße, Büsche. Am Ende des Weges steht ein Container, in dem Polizisten rumhängen. Dahinter die zugeschüttete Müllhalde. Hier hausen mehr als 900 Menschen. Auf der anderen Seite ist nichts, der Berg fällt steil ab, Sackgasse. 

Eigentlich sollte das erstmal geheim bleiben. Aber ein Bekannter von mir, der über die geflüchteten Menschen in Bihać berichten wollte, sah im Juni, wie Leute von der Straße in einen Bus gedrängt wurden. Er folgte dem Wagen und landete an diesem unfassbaren Ort. Da gab es noch keine Zelte, keine Betreuung. Viele der Menschen waren verletzt; von kroatischen Grenzern verprügelt, angeschossen. Er hatte nur ein Mini-Notfallset dabei, verarztete notdürftig, kaufte in den folgenden Tagen von seinem Geld mehr Kram, immer mehr Leute wurden hergebracht. Junge Männer und Familien. Mit Krankheiten und Verletzungen. Bis es 900 Menschen waren. Anfangs nannte er sich und seine paar Geräte noch aus Spaß Ambulanz. Irgendwann wurde aus Dirk, dem Journalisten, der Arzt von Vucjak. Und das Sprachrohr für die Geflüchteten. Vermittler zwischen allen Fronten, Polizei, dem Roten Kreuz Bihać, Geschäften in Bihać und so weiter. Er haust da mit ihnen, isst den gleichen Fraß. Hat sich am Telefon die Grundlagen der Medizin erklären lassen. Dazu jeden Tag zwei Stunden Medien und Politiker informieren und updaten. 

Foto: Kristina Koch

Unten in Bihać fragen wir einen Sicherheitsmann nach einem deutschen „Arzt“. „Meint Ihr Dirk?“ 

Als wir ankommen, streift Dirk gerade Gummihandschuhe ab. Kommt direkt von einer Operation an einem Bein. Auf einer verdammten Müllhalde. Er hat nun ein Zelt, in dem er Infusionen, OPs usw. durchführen kann. Er trägt einen Verband ums Knie, hat sich eine üble Infektion eingefangen und – natürlich – selbst verarztet.

Dirk Planert beim täglichen Verarzten. Foto: Dean Dean

Dirk, der aus Dortmund kommt, erzählt uns in Kurzform, wie die Lage momentan ist. Nach all den Monaten hier am Ende von Bosnien wirkt er immer noch gut wütend und gewillt die Sache so lange selbst in die Hände zu nehmen, bis sich EU, Regierungen, große Organisationen für die Menschen und für die Gesetzesbrüche der Behörden und Polizei eines Tages interessieren. Supertyp, freundlich, realistisch, fokussiert. Dann muss er noch schnell zu Ende operieren.

Es gibt jetzt auch Großzelte, in denen Dutzende Menschen zusammen auf dem Waldboden leben. Das soll die Vorbereitung des Red Cross Bihać auf die Regenzeit und den Winter sein. Das lokale Rote Kreuz hilft, aber den Großteil haben einzelne Menschen getan: 
Sie spenden zum Beispiel Geld. Dirk braucht jeden Tag 500 Euro, um seine Ambulanz aufrecht zu erhalten. Ein Bus aus Österreich brachte EKGs. Ein slowenischer Soldat half ein paar Tage mit. Von der Uniklink Essen kamen Leute. Eine Krankenschwester aus Bayern kommt übers Wochenende, eine Kinderärztin aus Budapest. Zum Zuckerfest hat der Bürgermeister von Bihać ordentliches Essen gespendet, vereinzelte Bewohner sind wohl gesonnen. Kleine Initiativen aus Deutschland bringen Decken und anderen Kram. Alle im Camp haben Angst vor dem Winter. Einige sind sehr schwach. 

Foto: Dean Dean


Wir haben Schuhe mitgebracht, Medikamente und Geld. Uns bedrückt es, dass wir nur ein paar Leuten helfen können. Die meisten Menschen tragen Flipflops oder kaputte Schuhe auf dem Müllberg. Wollen so den Weg nach Kroatien und weiter wagen. Dirk und sein jeweiliges Team versuchen die Leute so gut es geht vorzubereiten: okaye Schuhe, Handy, Medikamente, Kopflampe, Wasser. Es ist schon oft passiert, dass die Leute nach ein paar Tagen zurückkamen: ohne Schuhe, ohne Handys, verletzt und erniedrigt. Wenige werden es schaffen. 

Eine Familie auf dem Weg nach Kroatien. Foto: Dean Dean

Unten in Bihać erzählt ein afghanischer Junge, dass er erst Richtung EU aufbrechen kann, wenn er seinen Bruder gefunden hat. Der auch irgendwo in Bihać sein muss, aber nicht mehr auf Anrufe reagiert. Dirk erklärt oben im Camp, dass es im Ort noch einen zweite Polizei gibt, Squad-style. In schwarzen Bussen ohne Seitenfenster fahren sie rum, schüchtern die Leute ein. Dirk hat beobachtet, wie sie Leute in den Bus zerren, den Wagen in die Sonne stellen und Kaffee trinken gehen. Halbtot fallen die Geflüchteten nach Stunden wieder raus. Und landen bei Dirk, der sie behandelt. Der Wilde Westen mitten in Europa.

Die „Ambulanz“. Foto Dean Dean

In Bihać sitzen die Flüchtenden, die in den anderen Camps untergebracht sind, in Parks rum, auf Wiesen, immer etwas abseits, aber sichtbar. Unser Eindruck ist erstmal ok, alle sind ruhig, auch die Gruppen. Die Einheimischen machen ihren Kram. Ein junger Mann aus Pakistan betritt zögerlich eine Bäckerei. Ein Junge läuft in Badelatschen bei 35 Grad den Berg hoch, er will nicht mit uns fahren. Ein anderer zückt sofort seine ‚Meldebescheinigung’ mit Info über seine Unterbringung. Er hat wohl keine gute Erfahrung mit fragenden Leuten gemacht. Wer keine hat, wird mitgenommen oder auf den Müllberg gebracht. Dirk erzählt, dass die Leute in den meisten örtlichen Geschäften unerwünscht sind. Eine Bewohnerin von Bihać sagt, dass sie sich nicht vor den vielen neuen Menschen fürchte, die überall in der Stadt rumsitzen. Denn die Polizei habe alles unter Kontrolle. 

Im Lager von Vucjak, nachdem ein Mann getötet wurde. Foto Dean Dean

Dirk hat alle informiert, die was tun könnten. Er hat telefoniert, Briefe geschrieben, Interviews gegeben. Die EU ist informiert, dass die kroatische Polizei illegal Flüchtlinge nach Bosnien zurück schickt. Dabei Gewalt anwendet, ausraubt, Schusswaffen vorhält und benutzt. Die meisten der gestrandeten Menschen in Bihać waren bereits in der EU und wurden illegal durch Kroatien zurückgepusht. Diese Menschen hätten in der EU Asyl beantragen können.
Dirk finanziert alles alleine und durch die Spenden. Die EU hilft nicht, Bosnien hilft nicht, keine große Hilfsorganisation hilft. Auch die Stadt Bihać erhält keine Unterstützung. Vor einigen Tagen ist ein Mann gestorben, erstochen. Im Winter könnte es zu mehr Todesfällen kommen.

Wer mehr erfahren möchte:
Videos, Fotos, Links zu Medienberichten und Dirks eigene, viel detaillierte Berichte sowie die derjenigen, die dort geholfen haben, sind auf seiner facebook-Seite zu finden. Er führt dort Tagebuch. 
Wer helfen mag, eine Geldspende wäre toll. Verbreitung auch. Wer noch mehr wissen oder machen will, kann mir gern schreiben.

Dirks Kontoinfos und seine Facebook-Seite:  


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