Ein mir sehr nahe stehender Mensch kommt aus dem Irak. Als der IS in seiner Stadt und sogar in seinem Haus war, haben wir zusammen gezittert. Durch ihn habe ich den Irak ein bisschen verstanden. Er zeigt mir Bilder und Videos, die man sonst nicht zu sehen kriegt. Sein bester Freund ist Journalist in Mossul und hält uns mit Insidernews auf dem Laufenden. Seltene Einsichten in eine schwer nachvollziehbare Welt. Nur manches davon gelangt in die deutschen Medien. Meist Wochen oder Monate später, verpackt als heiße News.
Seit einigen Wochen versorgt uns der Freund aus Mossul wieder mit Nachrichten aus dem Irak. Täglich trudeln dramatische Bilder ein. Nichts davon sieht man in den deutschen Nachrichten, in denen es gerade eher um den Libanon und Iran geht.
Dabei passiert im Irak gerade ein wahnsinniger Volksaufstand. So etwas hat es da noch nie gegeben. Von den sieben Millionen Einwohnern von Bagdad sind über sechs Millionen auf der Straße. Die Geschäfte sind geschlossen, die Arbeit ist niedergelegt. Seit September sind sie tags und nachts draußen rund um den Tahrir Square, den Platz der Befreiung. Die Iraker nennen das, was seit Wochen das Land durchschüttelt, ihre Oktoberrevolution.
Mein Freund zeigt mir ein Video, das nur ein paar Minuten zuvor gemacht worden ist. Am Tigris-Ufer in der irakischen Hauptstadt Bagdad haben Demonstranten ein leer stehendes Hochhaus besetzt. Sie sitzen in den Fenstern und auf dem Dach. Am Ufer gegenüber liegt das Regierungsviertel, die so genannte Grüne Zone. Auf der Brücke dazwischen steht Miliz und schießt Tränengasgranaten rüber. Jeden Morgen rufen die Demonstrierenden aus dem Hochhaus „Und, was habt ihr heute für uns?“ Dazu dröhnt aus den Boxen „Bella Ciao“. Hunderttausende singen mit.
Gegen die Demonstranten wird nämlich außerordentlich hart vorgegangen: Scharfschützen erschießen gezielt Menschen auf den Straßen Bagdads; unbewaffnete Menschen, die Banner mit „Frieden!“ hochhalten. Bis heute sind 374 getötet worden. Menschenmengen werden brutal zerschlagen. Tausende sind verhaftet worden, darunter Journalisten und Menschenrechtler. Tränengasgranaten fliegen den ganzen Tag. 11.000 Verletzte sind in den Krankenhäusern. Ärzte, die Verwundete versorgen wollen, werden abgeführt.
Die Menschen, die so verzweifelt sind, dass sie ihr Leben für eine Veränderung opfern würden, wollen das jetzige politische System beseitigen. Sie fordern, dass alle Politiker zurücktreten. Sie fordern das Ende der ethnischen Diskriminierungen, der Misswirtschaft und Korruption. Sie wollen auch den Scheich Ali as-Sistani, den bedeutendsten Geistlichen des Landes, nicht mehr, obwohl der als moderat gilt und die Demonstranten in Schutz nimmt. Die Iraker haben die Nase voll von Leuten, die ihnen was vorschreiben wollen. Vor allem von der Fremdbestimmung durch ihr Nachbarland Iran.
Der Irak wird im Prinzip von der Regierung ihres Nachbarlandes Iran gelenkt. In allen Staatsangelegenheiten entscheidet die iranische Führung. Die PMF (religiös-ideologische Volksmobilisierungseinheiten) agieren im Irak wie die Hisbollah im Libanon. Aus Teheran kommen riesige Geldsummen nach Bagdad, Damaskus und Beirut. Irantreue Miliz ist es auch, die hier die Demonstranten so brutal bekämpft.
Mein Freund zeigt mir neue Videos. Schlimme und schöne Szenen nah beieinander. Verletzte liegen herum, viele tragen Gasmasken. Alte Leute kochen am Straßenrand für die jungen. Die Frauen marschieren mit und sind auf einmal sichtbar geworden. Popstars geben spontane Konzerte an Straßenecken. Eine alte Frau hat eine Waschmaschine gekauft und zum Tahrir-Platz gebracht, um die Kleidung der Demonstrierenden zu waschen. Ausgerechnet gestern spielte der Irak gegen den Iran in der Qualifikation für die WM. Auf dem Tahrir-Platz guckten Hunderttausende Iraker aller Schichten zusammen das Spiel. Irak schlägt Iran mit 2:1. Feuerwerk und Tränengas.
Wenn es bei dieser Revolution einen Lichtpunkt gibt, dann dass alle Iraker zusammenstehen. Religiöse und ethnische Unterschiede sind endlich mal irrelevant. Sogar die verstoßenen Baathi, Nachkommen der Parteianhänger von Saddam Hussein, sind plötzlich mitten drin. Die 14 bis 17-Jährigen leben in den Armenvierteln, arbeiten als Rikscha-Fahrer und werden seit Saddams Sturz wie Aussätzige behandelt. Die Eltern sind längst ermordet worden. Nun transportieren sie die Verletzten umsonst in die Krankenhäuser, übernehmen jedwede Fahrt, sind unentbehrlich geworden. Meine Freude darüber wird vom nächsten Video abgestoppt. Da sieht man einen jungen Baathi, in eine rotschwarzweiße Flagge gehüllt. Er hat sich mitten in die Schusslinie gestellt und wird sofort erschossen.
Hier zwei Folgen auf Englisch der irakischen Satire-TV-Show „Albasheer Show“ , die die aktuelle Revolution thematisiert.
[…] Der Text erschien in ähnlicher Form bereits auf peopleandspomeniks […]