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Srebrenica Revisited – zum 25. Jahrestag des Völkermords

Srebrenica ist zum Inbegriff für das kollektive Versagen der internationalen Gemeinschaft geworden. Denn das Morden in der bosnischen Stadt fand 1995 vor den Augen der Vereinten Nationen und der Weltöffentlichkeit statt.

Jetzt, am 11. Juli 2020 jährt sich der planmäßige Mord an Tausenden Bosniaken zum 25. Mal.

2015 verbrachte ich eine Woche in Srebrenica und nahm an der Gedenkfeier zum 20. Jahrestag des Völkermords teil. Diesen Artikel habe ich damals darüber veröffentlicht. Am Schluss der Geschichte habe ich nun einige Updates hinzugefügt. Seit 2015 hat sich vieles zum Schlechten und einiges zum Guten verändert.

Srebrenica 2015

Es ist still. Nur wenige Menschen kreuzen an diesem Nachmittag des 6. Juli 2015 die Straßen von Srebrenica. Die beiden Moscheen in der Nähe der orthodoxen Kirche sind neu. Ein paar Poster mit Putins Bild hängen an den Fassaden. Auf einer Insel in der Ortsmitte sitzt ein undefinierbarer, heruntergekommener Betonkomplex. Ein paar Männer lehnen an einem Kiosk. Meine Suche nach einer Bäckerei endet erfolglos. In einem Laden probiert eine Frau Kleider von deutschen Firmen mit Fehlern an. Sonst passiert nicht viel. Nicht mal die in Bosnien berühmten streunenden Hunde sind gerade unterwegs.

Die Atmosphäre erscheint mir stickig und starr. Das ist so ein Gefühl, das ich in vielen Orten im serbischen Teil von Bosnien-Herzegowina habe, wo seit dem Bosnienkrieg kyrillisch statt lateinisch geschrieben wird. Zwanzig Jahre ist keine lange Zeit. So schnell können sich Gemeinden, die aus der Vertreibung der Bewohner entstanden sind, nicht natürlich anfühlen.

An der Tür einer Musikschule, die von einem österreichischen Projekt gesponsert wird, sind bunte Noten und lustige Sprüche gemalt. Der unbeschwerte Ansatz kommt nicht rüber.

Srebrenica, Foto: Kristina Koch

Aber kann ich meinen ersten Eindrücken überhaupt trauen? Srebrenica ist längst ein abstrakter Begriff geworden, ein Synonym für etwas Schreckliches. Dass man nicht so genau weiß, wie Srebrenica ausgesprochen wird, macht es nicht besser. Überall kläfft es: Schlimmster Völkermord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Es bleibt also abstrakt. Was kann man sich schon darunter vorstellen? Ein Ort des Grauens, mehr ist nicht drin. Oder vielleicht doch?

Gedenkfeier in Potočari bei Srebrenica 2015, Foto: Kristina Koch

Am Samstag, dem 11. Juli 2015, findet in der Gedenkstätte von Potočari, sechs Kilometer nördlich von Srebrenica, zum zwanzigsten Mal die Trauerfeier für die Opfer der Massentötungen von 1995 statt. Die bosnisch-serbische Armee unter dem Kommando von General Ratko Mladić ermordete damals 8000 muslimische Männer und Jungen innerhalb weniger Tage systematisch. Tausende andere flohen in die Wälder, viele starben aus Erschöpfung, durch Minen oder durch die serbische Armee.

30.000 Besucher werden in der kleinen Gemeinde erwartet. Es wird Staus geben, Zelte, Filmteams. Zahllose kleine weiße Blumen, das Symbol des Srebrenica-Massakers, werden an den Revers flattern. Politiker werden Reden halten und Journalisten ihre Artikel schreiben. Andere wollen schlichtweg Respekt zollen und vielleicht auch ein bisschen mehr verstehen, wie so etwas im 20. Jahrhundert mitten in Europa passieren konnte. Auch Holländer werden da sein. Dazu später mehr.

In all dem Trubel trauern die Menschen aus Srebrenica zum zwanzigsten Mal um ihre toten Angehörigen und Freunde. Und wie jedes Jahr seit der Einweihung der Gedenkstätte 2003 werden auch dieses Mal wieder neue Tote begraben, deren Körperteile man im Laufe des letzten Jahres identifiziert hat.

Wir erinnern uns gut: An die Bilder von den weinenden Frauen auf Lastwagen, die von ihren Männern und Söhnen getrennt wurden. Von den Jungen, die irgendwo hier von lachend filmenden Soldaten hingerichtet wurden. Ratko Mladić, wie er böse grinsend durch diese Straßen lief wie ein verrückter Cowboy und anwies, alle Moslems zu töten. Wie er den ausgehungerten muslimischen Kindern Schokolade schenkte, aber nur kurz für die Pressefotos, denn er nahm sie ihnen sofort wieder ab. Das war gleich hier auf der anderen Straßenseite.

Was denkt die Frau da, die ihre Blumen gießt, wenn sie Besucher wie mich hier durch den Ort schleichen sieht? Ist ihr sofort klar, dass ich wegen des Völkermords hier bin, diesemunsichtbaren zweiten Namen dieses Ortes?

Es ist also nicht leicht, sich dieser Stadt und seinen Menschen unbelastet zu nähern. Vor allem auch, weil zwanzig Jahre später noch so viel im Unklaren liegt. Auch dazu später mehr.

Nach einem starken bosanska kafa habe ich Augen dafür, dass Srebrenica auch ein hübscher Ort ist, in dem die Aprikosen früher reif sind als anderswo. Die Lage im engen Tal, von sattgrünen Hügeln und bewaldeten Bergen umgeben, pusht die Vegetation. Der keine Fluss Kruševa plätschert recht idyllisch wie eigensinnig durch den Ort, taucht mal links und mal rechts von der Hauptstraße auf. Die Häuser stehen auf Hängen, durch Treppchen, Brücken, Stege mit der Straße verbunden. Obstbäume säumen den Straßenrand wie anderswo Hecken. Die Eifel muss neidisch sein.

Viele andere Gebäude sind eingestürzt oder sehen aus, als würden sie niemals fertig gestellt. Ein junger Mann sitzt in einer Hollywoodschaukel auf einem Plateau ohne Geländer, das mal der Boden einer Etage werden sollte. Am Ortseingang warnt ein Schild vor Minen.

Die Realität in Srebrenica und die Rose

Ich treffe Enad, der mir über Srebrenica erzählen will. Enad ist um die 60 und verließ Srebrenica 1995. Er spricht Englisch mit amerikanischem Akzent.

„Ich wäre ermordet worden, wenn ich geblieben wäre. Die Stimmung war so hasserfüllt, dass man mich allein wegen meines guten Jobs und meines schönen Hauses umgebracht hätte, entweder von Serben oder von Moslems.“

Der Ökonom, der vor dem Krieg bosnische Firmen beriet, lebt seit seiner Flucht in Chicago, aber besucht seine Heimat regelmäßig. Im letzten Winter kam er zurück, um sein Haus zu renovieren. Er erklärt, dass für ihn Srebrenica nicht nur ein Ort des Krieges ist. „Dies ist meine Heimat, hier habe ich auch schöne Erinnerungen.“ Er lacht. „Ehrlich gesagt langweile ich mich hier heute ein wenig“, fügt er hinzu. „Srebrenica ist eine arme Stadt geworden, die jungen Leute gehen weg, weil es keine Arbeit gibt. Dabei gäbe es so viel zu tun, wenn man uns nur lassen würde.“ Enad winkt ab und braucht erst mal einen Kaffee.

Das Kulturcenter ist ein Kasten aus dem Sozialismus, die Terrasse besteht aus einem Stück Asphalt. Die Kultureinrichtungen sind irgendwann aufgegeben worden, nur das Café hat überlebt. Die alten Schreibtischstühle mit blauem Kratzpolster und Brandlöchern sind jetzt Caféinventar, ziemlich trist. Ich schaue mich nach Alternativen um, aber mein Gesprächspartner sagt, nein nein, hier ist es nett. Der Kellner strahlt, will meine Hand gar nicht mehr loslassen und deutet eine Verbeugung an. Er serviert die Getränke, als könnte er sich nichts Schöneres vorstellen und leert den Aschenbecher nach jeder Zigarette.

 “Alle Projekte, die Srebrenica aus dieser Tristesse helfen könnten, versanden. Das Geld verschwindet in den Taschen der Politiker und kommt bei den normalen Leuten erst gar nicht an”, erzählt Enad weiter. “Vor dem Krieg hatten hier fast alle ein Auto und ein Ferienhaus an der Adria”, erinnert er sich. “Wir haben Heilquellen, Srebrenica war ein reicher Kurort!” Enad stellt die Tasse ab und schaut sich um. “Kaum noch vorstellbar, oder?” Eine türkische Firma wollte das Kurzentrum wieder aufbauen, das im Krieg zerstört wurde, erklärt er. Aber als die Politiker wollten, dass das Geld erstmal auf ihre Konten überwiesen wird, zogen sich die Türken zurück.” Er schüttelt den Kopf. “Hier gibt es viele kleine Seelen. Sie meckern, dass für unseren Ort nichts getan wird, aber wenn es eine Chance gibt, stecken sie sich das Geld selber in die Tasche. Das ist unser Dilemma.”

Der Bosnier Enad blickt über den Friedhof von Potočari, Foto Kristina Koch

Nebenan steht die Ruine eines Wohnhauses, das vor 20 Jahren verlassen wurde und total zusammengefallen ist. Der Schutt ergießt sich bis auf die Straße. Am zentralen Platz der Stadt. Auf meine Frage, warum diese Häuser nicht abgerissen werden oder die Besitzer sie nicht verkaufen, senkt Enad die Stimme.

„Die Besitzer sind seit ihrer Flucht vor zwanzig Jahren nicht mehr zurückgekommen, weil sie es nicht ertragen. Ich habe Freunde, die in Ohnmacht gefallen sind, als sie ein Foto von ihrem alten Haus gesehen haben. Die können sich mit dem Thema überhaupt nicht beschäftigen. Ihre Erinnerungen sind zu grausam.“

„Wir brauchen einen ehrlichen Anführer“

Enad glaubt dennoch an Bosnien. “Wir brauchen einen ehrlichen Anführer. Ich bin nicht bloß ein Tito-Nostalgiker. Aber ich glaube daran, dass unsere Leute etwas in sich haben. Mit Tito waren wir fleißig und stolz darauf, das ist der Beweis. Es sind die Politiker, die uns in dieser Lethargie gefangen halten, um ihre Macht zu beschützen. In der Situation, in der Bosnien heute ist, mit all den Spannungen, schaffen wir es nicht allein. Deutschland hatte Adenauer! Mit ihm ging es aufwärts. Und so konnte auch der Holocaust verarbeitet werden.”

Großdenker wie er würden in Srebrenica skeptisch beäugt, erzählt er. „Es gibt hier viele gute Leute, aber es gibt auch Neid. Auf diejenigen, die von internationalen Organisationen Hilfe bekommen haben. Oder auf die Rückkehrer, die im Ausland Geld verdient haben. Dazu kommt die Wut auf die Politiker, die es nicht schaffen, die Situation in dieser Stadt erträglich zu machen.” Seit er wieder hier ist, habe er einigen Leute vorsichtig vorgeschlagen, auch ihre Häuser zu renovieren. Jetzt seien schon ungefähr zwanzig Nachbarn zugange. „Das ist alles, was wir selber tun können, damit es hier nicht komplett den Bach runtergeht.“

Als der Kellner mit der Rechnung kommt, hat er eine Rose dabei, um deren Stiel ein feuchtes Tuch gewickelt ist. „Poklon“, sagt er. Geschenk. Enad lächelt. „Ich hab doch gesagt, dass es hier nett ist“.

Vor jedem Jahrestag spürt man die Spannung

Heute leben in Srebrenica ca. 70% Serben und 30 % Muslime. Sie arbeiten zusammen und essen in denselben Cevapcici-Buden. Der Bürgermeister ist muslimisch. Srebrenica ist die einzige Gemeinde in der RS (Republika Srpska/Serbische Republik), die nicht serbisch regiert wird, weil die Vertriebenen nicht an ihrem heutigen, sondern am ursprünglichen Ort ihre Stimmen abgeben können.

„Man kann über alles reden, aber wenn es um 1995 geht, wird geschwiegen.“, erzählt Enad. Vor jedem Jahrestag könne man die Spannung spüren, die Serben würden stiller. Wenn die Schulkinder fragen, erklären die serbischen Lehrer die serbische Seite der Geschichte. Viele konterten mit den Verbrechen der Moslems an der serbischen Bevölkerung (in Nordbosnien kamen auch über 3000 serbische Soldaten um). So als ob es ein Wettbewerb wäre.

Die serbischen Politiker leugnen den Genozid bis heute. Obwohl alles so offensichtlich ist. Der Präsident der Serbischen Bosnier, Milorad Dodik, nannte die Tötungen von Srebrenica kürzlich “das größte Scheinverbrechen des 20. Jahrhunderts”. Dafür wird er von Nationalisten in Serbien gefeiert. (Anm.: Dodik ist heute nicht mehr Präsident)

Auf bosniakischer Seite hingegen wird sich in einer mythologisierte Opferrolle gesuhlt, die von den bosniakischen Nationalisten angefeuert wird. Und so geht es hin und her wie im Pingpongspiel. Die Familien der Opfer, die am Samstag einen schweren Tag zu überstehen haben, dienen als Werkzeuge für ein Spektakel, aus dem jeder bosnische Politiker Profit schlägt. Vor die Kameras gezerrt zu werden, bringt den Angehörigen nicht viel. Was sie bräuchten, ist wahre Anerkennung.

Eine bosnische Hinterbliebene am Sarg, kurz vor der Bestattung. Foto Kristina Koch

Die Rückkehrer

Ich bin mit einer Rückkehrer-Familie verabredet. Ihr gehört das Hotel Misirlije, das am Ortsausgang liegt. Der Weg dorthin führt an Häusern mit Vorgärten vorbei. Eine Frau pflückt schwarze Johannisbeeren von einem Strauch und schüttet mir zwinkernd den ganzen Inhalt ihrer Schüssel in die Hände. Vor einem ärmlich aussehenden Haus sitzt ein alter Mann mit Strohhut und winkt. Neben ihm drängen Kakteen aus gepunkteten Kochtöpfen und Plastikeimern.

Heute leben ungefähr 3500 Menschen in Srebrenica. Vor dem Krieg waren es über 35.000. Viele ermordet, viele geflohen. Einige Überlebende und Angehörige der Opfer sind in den letzten Jahren zurückgekehrt. Mütter, die ihren toten Söhnen und Ehemännern nahe sein wollen, weil sie sonst niemanden mehr haben. Oder diejenigen, die noch heute darauf warten, dass ihre toten Angehörigen gefunden werden. 7.100 von 8.372 Vermissten sind im Laufe der zwanzig Jahre gefunden worden. Die Suche gestaltet sich zäh. Denn nach den Massentötungen hatte die bosnisch-serbische Armee angeordnet, die Massengräber aufzuschaufeln und die Toten an anderer Stelle erneut zu verbuddeln, um Verwirrung zu stiften. Dabei zerbrachen viele Leichen. Es kommt vor, dass mehrere Knochen derselben Person an verschiedenen Orten gefunden werden, die zig Kilometer auseinander liegen.

Manchmal helfen serbische Nachbarn dabei, diese Gräber zu lokalisieren, weil sie mit ihrem Wissen nicht mehr leben können.

Auf der Terrasse des Gasthauses Mirsilije lässt sich gut verweilen. Advo Purković, ein gutmütig dreinschauender Mann, führt das Hotel, seit sein Vater Dule kürzlich verstarb. Auf der Theke liegt ein Buch mit dem Bild des Vaters auf dem Cover, das Freunde zusammengestellt haben. „Mein Vater war ein Exempel für Srebrenica“, lächelt Avdo, dessen Eltern vor dem Krieg dieses Gasthaus eröffneten. „Als die serbische Armee in Srebrenica einfiel, beschloss mein Vater zu helfen anstatt zu fliehen. Er sah all die Verwundeten und schloss sich Ärzte ohne Grenzen an. Uns schickte er fort.“ Als die serbisch-bosnische Armee einfiel, konnte er dank Ärzte ohne Grenzen fliehen. Als ich ihn nach drei Jahren wiedersah, wog er 50 Kilo und ich habe ihn nicht erkannt.“

Einige Jahre nach dem Krieg war es Purković, der als erster Vertriebener wieder zurück in seine Heimat kehrte. In seinem Haus wohnten Serben. Radovan Karadžić, damaliger Präsident der Serbischen Republik, hatte den serbischen Soldaten versprochen, alles behalten zu können, was sie erobert hatten. Darüber hinaus kamen serbische Flüchtlinge in den Ort, die aus Angst vor Rache aus den Vororten von Sarajevo geflohen waren.

„Der Prozess, unsere Häuser wiederzubekommen dauerte lange und war kompliziert“, berichtet Avdo. Schließlich startete der OHR (der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina) eine Kampagne, die den Muslimen erlaubte, in ihre Heimatstädte in der Serbischen Republik zurückzugehen. Und auch die Serben durften zurück in ihre Häuser in der Föderation, wo sich wiederum Muslime niedergelassen hatten.

„Die Spannungen waren noch Jahre nach dem Krieg groß. Es war nicht leicht, sich nicht provozieren zu lassen.“ Doch die Purkovićs ließen ihr Gasthaus Schritt für Schritt wieder auferstehen. Heute bietet es 40 Zimmer, ein gutes Restaurant und angenehme Stimmung. „Eigentlich leben wir nur von dem Gedenktourismus, sonst kommt kaum einer hierher“, sagt Avdo. Doch später schauen ein paar junge Einheimische auf eine Zigarette rein.

Am frühen Abend duftet die Luft frisch und gesund, fast wie am Meer. Die Käfer sind viermal so groß wie in Deutschland. Am Straßenrand wuchern wild pinke Rosen und orangefarbene Lilien. Aus einem komplett zusammen gekrachten Haus drängt ein Baum aus blauen Hortensien.

Meine Gastgeberin Leyla wartet mit einer Spinatpita auf mich. Sie hat wie fast alle muslimischen Frauen hier 1995 ihren Mann und ihre Söhne verloren.

Leyla auf dem Balkon ihres Hauses in Srebrenica. Foto Kristina Koch

Die holländische Schutztruppe und die Europäische Gemeinschaft

Srebrenica war die erste UN-Schutzzone der Weltgeschichte und sollte den verfolgten Muslimen ein sicherer Hafen sein. Doch die Schutztruppe der Vereinten Nationen, Dutchbat III, fand sich in einem schrecklichen Spiel wieder, in dem Ratko Mladić die Strippen zog und die Europäische Gemeinschaft nicht zur Hilfe kam.

Als Srebrenica an Mladićs Truppen fiel, flohen 25.000 Menschen nach Potočari in das Hauptquartier der Holländer. Videoaufnahmen zeigen, wie der serbische Armeeführer den holländischen Befehlshaber Thomas Karremans vor die Wahl stellte: Entweder er liefere die 25.000 Menschen aus Srebrenica an ihn aus – oder er und seine 400 Leute würden sterben. „Sie haben doch sicher Frau und Kinder. Wollen Sie sie gern wiedersehen?“, fragt Mladić ungeduldig.

Gleichzeitig warteten die Blauhelme vergeblich auf die dringend angeforderte Luftunterstützung der NATO. Karremans und seine Leute händigen die Menschen an Mladić aus. Dann stoßen Mladić und der verzweifelte Karremans mit diversen Rakija an. Mladić überreicht Karremans Geschenke „für die Familie“ und jubelt den abfahrenden Holländern irre zu.

Den Rest kennen wir. Die Frauen und Mädchen ließ er auf Lastwagen packen und irgendwo aussetzen. Die 8000 Männer und Jungen ließ er erschießen. Alle anderen vorstellbaren Kriegsverbrechen und Demütigungen inklusive.

Ehemalige Waffenkammer der Blauhelme. Foto Kristina Koch

Heute sitzt Mladić wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Den Haag – wahnsinnig und hasserfüllt wie eh und je. Im Juli 2011 wurde den Niederlanden eine Mitschuld am Tod der muslimischen Männer zugesprochen. Auf Karremans und seinen Männern lasten schwere Vorwürfe von Seiten der Angehörigen der Opfer. Immer wieder Fragen, warum die Holländer nicht einschritten, um die Deportationen zu verhindern.

Enad schüttelt vehement den Kopf. „Das ist so nicht richtig. Er hat seine Leute gerettet. Als Kommandant hat man als erstes seine Leute zu retten und das hat er gemacht.“ Und damit Tausende in den Tod geschickt? „Nein. Auch das stimmt nicht. Hätte er sich auf den Deal nicht eingelassen, hätten sie ihn und seine Leute erschossen und dann trotzdem die Menschen von Srebrenica. Es gab ja gar keine Waffen mehr, die hatte Mladić zuvor alle einkassiert.“ Eine gutmütige Auffassung.

Zu den Trauerfeiern reisen jedes Jahr viele Holländer an. Es gibt ehemalige Soldaten, die sogar mehrmals im Jahr kommen. Einige andere haben sich längst das Leben genommen. Viele andere sind psychisch krank und lange schon nicht mehr arbeitsfähig.

Die Gedenkfeier und Aleksandar Vučić

Auf dem Weg nach Potočari, Foto Kristina Koch

Am Tag der Trauerzeremonie brennt die Sonne. Die Durchgangsstraße ist mit Autos verstopft. Auf den Feldern parken Busse, dazu massig Zelte und provisorische Cafes. Tausende Fußgänger nähern sich Potočari aus allen Richtungen. Flaggen aus allen Ländern der Welt. Je näher man kommt, desto irrer wird es. Die Bewohner haben für die Pilgerschar Wasserschläuche an ihre Zäune gehängt. Über mehrere Kilometer säumen Grillbuden die Straße. Die Grillmeister reichen den Autofahrern im Stau Fleischstücke durchs Fenster.

Ein Mann in einem verblichenen T-Shirt wird immer wieder von Passanten umarmt. Später, ich sollte ihn in einer Kneipe wiedersehen, erfuhr ich, dass der Belgier 1995 mit Ärzte ohne Grenzen hier arbeitete. Jedes Jahr kommt er her und trägt das alte Shirt seiner Hilfsorganisation. Die Wanderer des Friedensmarsches Marš Mira sind auch da. Jedes Jahr laufen sie dieselbe 100 km lange Strecke durchs Gebirge, auf der die Überlebenden nach dem Sturz von Srebrenica flohen, um das Territorium der bosnischen Armee zu erreichen.

Marathonläufer in Srebrenica-Shirts rennen vorbei. Gerade als ich an das Trompetenfestival in Guća denken muss, sehe ich den bosnischen Kriegsverbrecher Naser Orić im Bierzelt an einem Stück Fleisch nagen. Orićs Fall ist brandheiß und skandalös. Er war 1995 der militärische Kommandeur der bosnischen Armee in Srebrenica und wurde mehrfach für Morde an Serben verurteilt – und immer wieder frei gesprochen. Erst vor ein paar Tagen war Orić in Genf wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen Menschlichkeit verhaftet worden. Da er sich weigerte nach Serbien ausgeliefert zu werden und Bosnien anbot, seinen Prozess zu übernehmen, lässt er sich offensichtlich hier erst mal feiern. Hitze, Grillqualm und Kriegsverbrecher machen mir zu schaffen und ich drängle mich weiter durch die Massen zur Gedenkstätte.

Die Gedenkfeier in Potočari für die Opfer von Srebrenica, Foto Kristina Koch

Der Friedhof von Potočari ist so groß, dass man ihn nicht überblicken kann, ohne auf einen Hügel zu steigen. Er ist in Parzellen mit Nummern unterteilt, der Rasen dazwischen ist gepflegt. Am Eingang sind die Namen von ca. 6300 bestatteten Opfern in Marmor eingraviert. Ich bin mit Enad verabredet, der mir die Namen seiner toten Angehörigen zeigt. 24 Menschen mit seinem Nachnamen. „Das ist meine Familie, ganz normale Leute, die mit Politik nichts zu tun hatten.“

Mahnmal in Potocari bei Srebrenica, Foto Kristina Koch

Die Menschen strömen ein. Eine Gruppe Männer schwenkt eine albanische Flagge. „Never forget“, rufen sie. Dann Helikopter-Lärm. Bill Clinton landet neben dem Friedhof. Ich brauche erst mal wieder Abstand, aber den gibt es hier heute nicht. Auf der anderen Straßenseite liegen die Fabriken, in denen vor 20 Jahren die Erschießungen stattfanden. Sie sind sind frei zugänglich, ohne Wachen, ohne Schilder. Manche Einschusslöcher an den Wänden sind übermalt, manche sieht man noch. In einer Ecke liegt ein rostiger Stacheldraht. Jemand meint, dass er vermutlich dazu benutzt wurde, die Todgeweihten ordentlich in einer Reihe zu halten. Nicht zu fassen, dass es nicht mehr Informationen gibt und mit den Relikten so unbedacht umgegangen wird.

Hier fanden im Juli 1995 die Massenerschießungen statt, Foto Kristina Koch
In der Fabrikhalle. Foto Kristina Koch
Gerahmte Fotos von Zeichnungen, die auf den Wänden der Fabrikhallen gefunden wurden. Foto Kristina Koch

In der Halle daneben liegen die Särge mit den Leichenteilen, die in wenigen Stunden bestattet werden. Ebenfalls für jeden einsehbar und ohne Wachleute. Ein paar Neugierige streunen herum und ein Fotograf redet auf eine weinende Frau ein. Scheinbar soll sie vor dem Sarg ihres verstorbenen Angehörigen posieren. Schnell wieder weg hier.

In der Gedenkhalle lagern die Särge für die diesjährige Bestattung, Foto Kristina Koch

Mitten auf dem Feld hinter den Hallen steckt ein Schild im Boden: Toilet.

Noch spürt man nicht, dass heute ein besonderer Gast erscheinen soll. Serbiens Ministerpräsident Aleksandar Vučić hat angekündigt, Serbien zum ersten Mal auf der Gedenkfeier zu vertreten.

Die Särge werden auf den Friedhof getragen. Foto Kristina Koch

„Es ist Zeit zu zeigen, dass wir bereit zur Aussöhnung sind, dass wir bereit sind, uns vor den Opfern zu verneigen“, hatte er in einer Pressekonferenz gesagt. Den Völkermord erwähnte er nicht. Jasmin Mujanović nannte diese Rede von Vučić in einem Essay für The Balkanist “den tonlosesten Auftritt eines europäischen Staatsmannes der Weltgeschichte”. Er würde sich also heute verneigen, aber niemals den Völkermord anerkennen. Er ließe doch schließlich nicht auf seinem Vaterland rumtrampeln, sagte er noch.

Vučić verlässt den Friedhof. Foto Sarajevo Times

Aleksander Vučić erscheint wirklich. Bei der mehrerstündigen Zeremonie steht er mit anderen Politikern (rund 80 Delegationen aus der ganzen Welt) etwas am Rand. Dann schreitet er zum Mahnmal, um eine Blume niederzulegen. Einige Leute pfeifen. In meiner Umgebung raunt man, er sei über die Gräber gelaufen. Dieser Vorwurf taucht später nie wieder auf. Dann wird es lauter. Wasserflaschen und Steine fliegen. Die Bodyguards zerren Vučić weg und schützen ihn mit Regenschirmen gegen die anhaltenden Geschosse. Das war’s. Bei seiner Flucht vom Friedhof passiert er übrigens ein Transparent. Darauf steht: “Für jeden toten Serben hundert tote Muslime”. Vučićs eigene Worte, von damals. Er war zu Kriegszeiten radikaler Nationalist und drohte damals im Parlament, für jeden toten Serben würden 100 Muslime sterben. 

Am Abend gibt viel zu diskutieren. Presseleute, ehemalige Helfer und muslimische Einheimische leeren im Hotel Mirsilije gemeinsam die Rakija-Vorräte der Stadt. Der Prozess der Annäherung und Versöhnung zwischen Serben und Bosniaken bleibt höchstsensibel. Die Bosniaken brauchen die serbische Anerkennung des Genozids.

Am nächsten Tag ist es wieder stiller in Srebrenica. Die kleine Stadt ist noch immer in Geiselhaft. Umklammert von serbischen und bosniakischen Politikern. Gelähmt von offenen Fragen. Aber Srebrenica ist auch ein Ort, an dem Menschen leben, die hier verwurzelt sind. Menschen, die ihre Gärten pflegen und Besuchern wie mir freundlich zuwinken.

Srebrenica heute (2020)

Die Blume von Srebrenica wird am Tag der Gedenkfeier von vielen Menschen angesteckt. Foto Kristina Koch

Pünktlich zum zum 25. Jahrestag des Genozids an der bosnischen Bevölkerung in Srebrenica hat die Bürgerorganisation „Eastern Alternatives“ vor einigen Tagen Stimmung gegen die Bosnien gemacht. Auf den Werbetafeln von Srebrenica wurden Plakate mit dem Bild von Ratko Mladić aufgehängt. Darunter der Satz „Es gab keinen Genozid“. Auf anderen Plakaten mit Mladićs Foto steht „Der 11. Juli ist der Tag der Befreiung von Srebrenica. Dank der Armee der Serbischen Republik“

Foto: Sarajevo Times

Dass so etwas überhaupt möglich sind, ist einer traurigen Entwicklung geschuldet:  Seit 2016 ist ein serbischer Bürgermeister im Amt. Mladen Grujilić ist Anhänger der Serbenführer Karadžić und Mladić, die für das Massaker von Srebrenica verantwortlich waren. Seitdem hat sich die Sicherheitslage für die muslimische Bevölkerung in Srebrenica erheblich verschlechtert. Es vergeht kaum ein Tag, an dem Grujicić nicht den Genozid und die Verbrechen an Bosniaken in Srebrenica leugnet. Einige Rückkehrer haben Srebrenica seitdem aus Angst vor offenen Angriffen verlassen. Wieder einmal.

Die Leugnung des Genozids hält an. Politiker säen weiter gezielt Zwietracht zwischen ethnischen und religiösen Gruppen, rassistische Vorurteile und Hass. Sie verehren verurteilte Kriegsverbrecher und spalten anstatt zu versöhnen. 2016 wurde ein neues Studentenheim in Pale, der früheren Hochburg der bosnischen Serben, nach Radovan Karadžić benannt. Dies passierte einige Tage bevor das UN-Tribunal für Kriegsverbrechen das Urteil für Karadžić verkündete. Präzise geplante Aktion also.

Radovan Karadžić wurde im März 2016 zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt. Das UN-Tribunal befand ihn wegen Völkermords für das Massaker von Srebrenica, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während des Bosnienkriegs von 1992 bis 1995 schuldig. 2019 wurde seine Strafe im Berufungsverfahren endlich auf lebenslange Haft erhöht. Ein später, aber wichtiger Schritt für die Familien der Opfer.

Ansonsten ist die rechtliche Aufarbeitung der Morde längst nicht abgeschlossen. Das Urteil aus den Haag im Revisionsprozess gegen den serbischen Kriegsverbrecher Ratko Mladić steht noch aus. In den Ländern der Region, wo die Verfahren gegen Kriegsverbrecher zum Teil nur langsam vorankommen, mussten sich noch nicht alle Täter vor Gericht verantworten. Allein in der Gegend um Srebrenica sind noch immer Hunderte mutmaßliche Kriegsverbrecher auf freiem Fuß.

Noch immer leben rund 98.000 Binnenvertriebene in 121 Kollektivzentren. Zwischen 6800 und 8000 Personen werden noch vermisst. Immer noch suchen Menschen nach ihren Angehörigen. Immer noch graben Spezialisten Überreste von Opfern aus.

Zugleich bleibt der Völkermord von Srebrenica glücklicherweise im internationalen öffentlichen Bewusstsein. Dies ist auch zahlreichen Organisationen weltweit zu verdanken, die gegen das Vergessen ankämpfen und die Überlebenden bei der Aufarbeitung unterstützen. So kann wenigstens eine Erinnerungskultur etablieren werden. Die britische NGO „Remembering Srebrenica“ etwa ist eine gute Quelle für Dokumentationen, Berichte von Überlebenden, Workshops. Aktuell gibt es jeden Tag eine neue Veröffentlichung.

https://www.facebook.com/rememberingsrebrenica/

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