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Sutjeska- und dann kam Tito um die Ecke

Bei meinem ersten Besuch erschien mir Tjentište wie eine Vision. Der Sutjeska-Nationalpark, diese Schönheit im Südosten von Bosnien-Herzegowina, war an diesem heißen Augustmorgen so gut wie menschenleer. So allein in der grandiosen Umgebung war ich nicht nur plötzlich völlig naturbeseelt, sondern auch der Partisanenmythos, der in dieser Gegend weht, hatte mich kurz am Schlafittchen. Wahrscheinlich spielte aber auch mit hinein, dass ich eine schlaflose Nacht hinter mir hatte.

Ich war aus einer Rafting-Basis geflüchtet, irgendwo unten am Fluss Tara. Dort hatte ich versucht in einer Art Hundehütte, die mir der mürrische Raftingchef zugewiesen hatte, ein wenig Schlaf zu finden. Aber nur Hitze, Mücken und Platzangst. Außerdem hing mir noch nach, dass ich beim Spaziergang nach dem Abendessen eine Landmine entdeckt hatte. Meinen aufgeregten Bericht hatte man in der Rafting-Station allerdings nur mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert. Dann wurde weitergegrillt.

Ich war viel zu fertig für die geplante Tour auf dem Fluss, also schlich ich mich bei Sonnenaufgang mit starren Gelenken aus dem Lager. Die Straße in Richtung Montenegro, flankiert von den Bergen Zelengora und Maglic, wäre anderswo als berühmte scenic route ausgeschildert. Dicht bewaldete Hänge auf der einen Seite, und tief unten der Canyon, zweitgrößter weltweit, aus dem die Tara hinaufstrahlt wie ein Kristall.

Der Sutjeska-Nationalpark wurde 1962 errichtet und ist ein unbekanntes Juwel. Der Magic, Bosniens höchster Berg, steht zur Hälfte schon in Montenegro. Hier ist auch einer der raren Urwälder Europas, das Perucica Naturreservat. Ein Teil des Wanderwegs Via Dinarica führt an blühenden Bergwiesen und von Wäldern eingekreisten Seen vorbei. Ansonsten ist die Infrastruktur recht mies. Ständig würde man gern irgendwohin, aber findet keinen Weg. Aber wenigstens ist man in Sutjeska allein.

Im Zentrum des 175 qkm großen Areals liegt das Dorf Tjentište: zunächst nicht mehr als ein paar weit auseinander liegende Hütten auf Wiesen. Ein Mann am Straßenrand stellt ein paar Schalen Himbeeren auf einen Baumstumpf.

Der Spomenik von Tjentište

Kriegsdenkmal von Tjentište für die gefallenen Kämpfer von Sutjeska, von Miodrag Zivkovic. Foto: K. Koch

Plötzlich thront er da auf einem Hügel. Dieser Koloss aus Beton. Zwei scharf abknickende Flügel, silbrig und grauschwarz schimmernd, ragen 19 Meter in den knallblauen Himmel. Das Gebilde wirkt völlig fehl am Platz und zugleich perfekt platziert. Ich sehe Tito schelmisch grinsen. Da hat er sich wieder was ausgedacht.

Bis in die späten Achtziger Jahre war Sutjeska sowohl heiß geliebtes Urlaubsziel als auch Pilgerstätte, die mit Tito-Kult aufgeladen war. Die einmonatige Schlacht von Sutjeska ist der größte Mythos Jugoslawiens. Hier starben vom 15. Mai bis 16. Juni 1943 zwar 7000 Menschen, hauptsächlich Zivilisten, doch den Partisanen gelang so etwas wie ein Wunder. 18.000 Soldaten der jugoslawischen Volksarmee bezwangen 127.000 deutsche und italienische Soldaten. Dieser Sieg wird als Wendepunkt im gesamten Krieg angesehen – auch weil alle jugoslawischen Völker daraufhin die Partisanen unterstützten und sogar die Alliierten ihnen Waffen lieferten.

Natürlich musste ein würdiges Andenken her. Tito gab dem angesagten montenegrinischen Architekten Miodrag Zivkovic den Zuschlag und ließ 1972 das imposante „Kriegsdenkmal von Tjentište für die gefallenen Partisanen von Sutjeska“ errichten. Jeder Schüler, Student, Tourist oder Historiker kam her. Tito hielt hier große Reden. Zu Feierlichkeiten wie etwa dem „Tag der Kämpfer“ am 4. Juli reisten über 150.000 Besucher an.

Ich stelle mein Auto auf dem Parkplatz einer verschlossenen Bar direkt gegenüber des Denkmals ab. An diesem Morgen bin ich wohl der einzige Besucher in Sutjeska. Von Nahem erkenne ich, dass das die Denkmalskulptur im Zentrum eines großen Komplexes errichtet ist.

Eine breite Treppe führt zur ersten Station. Eine Art Altar, ein schlichter Kasten aus Stein. Von hier hat man einen grandiosen Blick auf die Skulptur. Ich lege mich auf den Altar, wie eine Opfergabe, und schaue hoch. Ich bin kurz ehrfürchtig. Natürlich soll man sich klein vorkommen, fühle ich mich ertappt, so sind Kriegsdenkmalkomplexe nun mal gebaut.

Der Spomenik, wie er da so vor dem blauen Himmel und dem dunklen Wald steht, verbindet sich nun langsam mit seiner Umgebung. Ich denke an die Sutjeska und ihre kristalline Farbe, an die Berge aus Granit. Alles passt jetzt perfekt zusammen. Bevor Tito gleich als Wicker Man verkleidet aus dem Wald kommt und mich für grausame Rituale benutzt, komme ich wieder zu mir. Ich lese, dass dieser Altar lange vor dem Denkmal errichtet wurde und unter mir seit 1958 die Überreste von 3000 Gefallenen vergraben liegen.

Als ich die Stufen zur Skulptur hinaufspringe, der nächste Naturflash. Mehrere Wildpferde galoppieren an mir vorbei. Die Pferde lassen sich ganz in der Nähe unter ein paar Bäumen nieder.

Als ich schließlich zwischen den Flügeln des Spomenik stehe und hinabschaue in das „Dolina heroja”, das Tal der Helden, kann ich alles vor mir sehen: Partisanensterne, Pfadfinder mit Tupperdosen, schwitzende Anzugträger auf Jahresfeiern. Klar, dass dies Jugoslawiens Top-Pilgerstätte war.

Man könnte ewig heruminterpretieren. Warum steht die Skulptur genau hier, warum zeigen die Flügel in diese Richtung, kamen von dort die Feinde? Sind es überhaupt Flügel oder vielleicht Diamanten? Zeigen die dekonstruierten Köpfe an der Innenwand deutsche Soldaten, die den anderen gegenüberstehen? Mir fällt dazu nichts Besseres ein als meinen Namen mit dem Autoschlüssel in den Granit zu ritzen.

Das Gedenkhaus mit Nazi-Thema

Gedenkhaus, Foto K. Koch

Das Gedenkhaus, ein weiterer Brutalismus-Traum von 1974, liegt nur ein paar Schritte vom Denkmal entfernt. Was zunächst aussieht wie ein paar niedliche Holzhütten, die zu nah aneinander gebaut wurden, ist ein 3000 qm großes Schmuckstück aus Beton. Für diese geniale postmoderne Mischung aus Kirche und Bunker erhielt der montenegrinische Architekt Ranko Radovic mehrere Auszeichnungen.

Gedenkhaus von Ranko Radović 1974, Foto K. Koch

Immer wieder wurde eingebrochen und gewütet, um die Geschichte von Sutjeska zu entmystifizieren. Bei all meinen Besuchen fand ich das Gedenkhaus, den Spomen-dom, verbarrikadiert vor. Blumen lagen vor der Tür. In den letzten Jahren wurde glücklicherweise restauriert. Wieder lesbar sind die Namen von 7356 gefallenen Partisanen an den Innenwänden. Auch die dreizehn Fresken mit den irren, überzeichneten Szenen aus der Schlacht wurden wieder hergestellt: Etwa die Nazis als lebende Tote samt ausgemergeltem Schäferhund. Jugoslawische Waisenkinder werden von deutschen Soldaten und Hunden in ihrem Versteck aufgespürt. Ein übergroßer Tito in seinem Tito-Mantel, der über sein Sutjeska-Reich blickt.

Um Sutjeska noch tiefer ins nationale Selbstbewusstsein einzuzementieren, entstand 1971 „Die Schlacht von Sutjeska“ , der kostspieligste Film, der in Jugoslawien je gedreht wurde („The Battle of Sutjeska“ oder „The Fifth Offensive“). Tito, der natürlich in die Produktion involviert war, wurde von Richard Burton gespielt.

Jugo-Sommerferienfeeling

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Foto K. Koch

Einige Hundert Meter vom Denkmalkomplex entfernt gibt es noch einen märchenhaften Platz. Hier wird mitten im Wald Wasser aus einem Bach in ein Becken von olympischer Größe geleitet. Ich springe sofort ins kalte Wasser. Auch hier bin ich allein. Am Ufer gegenüber liegt ein verwahrlost wirkendes Café mit Terrasse. Was hier in den guten Jugo-Jahren wohl los war? Ich kann Zdravko Čolić quasi aus den Boxen hören und die Teenies zwischen den Bäumen knutschen sehen. Jetzt ist alles still. So still, dass ich zunächst ungläubig die Augen zusammenkneife, als eine Gruppe lachender Jungen in Wanderschuhen am See vorbeistapft. Die meisten von ihnen haben die Arme um die Schultern eines Kumpels gelegt. Sie verschwinden im Wald. Später folge ich dem Bachverlauf und entdecke Trimm Dich-Pfade, Wanderwege und einen Fußballplatz. Ein riesiges Sportsko Rekreativni Centar im Wald. Zurück am See regt sich was im Café. Ein Mann kehrt vor der Tür, hebt den Besen zum Gruß. Ich mache über den Pool hinweg eine Trink-Bewegung. Nur Cola, ruft er. Essen? Nein. Wo dann? Er schüttelt den Kopf.

Von 1992 bis 1995, während des Krieges, war der Park nicht zugänglich. Obwohl Tito nach dem Zerfall Jugoslawiens eher verhasst war, wurde Sutjeska 1996, also recht schnell, unter der Schirmherrschaft der Serbischen Republik wieder eröffnet. Vielleicht waren die Erinnerungen an die Sommerferien in Sutjeska einfach zu schön. Die Hotels und Resorts in der Gegend wurden nach dem Krieg geplündert und zerstört. Das einzig verbliebene Hotel Mladost kann man entweder als ungastliche Frechheit empfinden oder man besorgt sich eine Flasche Slivovic und bildet sich ein, man sei 1974 in einer lustigen Jugendherberge abgestiegen.

Als ich schließlich zum Parkplatz am Denkmal zurückkehre, öffnet eine Frau die kleine Bar. Ich beginne ein Gespräch über den Spomenik. Sie winkt ab und sagt, damit habe sie überhaupt nicht zu tun. Stattdessen will sie mir was verkaufen und deutet auf ihre Auslage: Bier, Fanta, Gebasteltes aus Holz mit serbischer Flagge – und ein undefinierbares Gefäß mit Simpsons-Motiv.

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